KI und Customer Care: Der Weg aus der Servicewüste 

Die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Kundenbetreuung ist ein aktuelles Thema, das von vielen Unternehmen adressiert, aber häufig unter den falschen Motiven vorangetrieben wird. Bei der KI im Kundensupport steht meist die Automatisierung im Vordergrund, während die Chance für eine ganzheitliche Verbesserung der Kundenbeziehung nicht genutzt wird. 

Wir diskutierten an unserem letzten t’charta Produktmanagement-Roundtable, wie mit künstlicher Intelligenz die Kundenbetreuung neu gedacht und gestaltet werden kann. Unsere Gäste waren Mike Odekerken vom KI- und Customer-Care-Pionier Talkdesk und Roger Oberholzer vom der auf KI-basiertes Marketing spezialisierten Agentur Kuble sowie weitere zahlreiche engagierte Produktmanagerinnen und -manager aus verschiedenen Branchen.  

Wo stehen wir in der Entwicklung? 

Künstliche Intelligenz geniesst momentan viel Aufmerksamkeit und Dynamik in den Unternehmen und erhält auch die entsprechende Finanzierung. Diese Entwicklung wird sich wahrscheinlich noch weiter beschleunigen. Mike Odekerken hatte «in den letzten 18 Monaten gesehen, wie Unternehmen in der DACH-Region vom Stadium der Neugier zu echtem Engagement übergegangen sind. Budgets wurden freigegeben, Wissensdatenbanken aufgebaut und Pilotprojekte gestartet.» Auch Roger Oberholzer meinte, dass wir «nicht am Ziel, sondern ganz am Anfang der Entwicklung» sind. Beide sehen ein riesiges Potenzial für Marken und Unternehmen, die Beziehungen und Interaktionen mit ihren Kunden mit künstlicher Intelligenz zu verbessern.  

Doch Unternehmen neigen dazu, KI als Allzwecklösung zu betrachten und wollen die Kundendienstprozesse und Anwendungsfälle umfassend und radikal verändern. Sie tendieren dazu, die Komplexität der Auswirkungen auf Customer-Care-Abteilungen sowie die Erwartungen der Verbraucher an das Kundenerlebnis zu unterschätzen. Wie die Medien am Beispiel des schwedischen Zahlmittel-Fintech Klarna berichteten, erwarten Unternehmen teilweise zu viel von den aktuellen Möglichkeiten der KI in der Kundenbetreuung. Im 2024 verhängte Klarna einen Einstellungsstopp für Customer Care Mitarbeitende und wollte nur noch auf künstliche Intelligenz setzen. Gemäss dem CEO Sebastian Siemiatkowski wollte man mit KI «viel mehr mit weniger erreichen» und hat fast 700 Kundendienstmitarbeitende abgebaut. Im Mai 2025 ruderte des Unternehmen dann wieder zurück. Man sei zu weit gegangen, erklärte Siemiatkowski gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg. Das Unternehmen stellt daher wieder Menschen für den Kundendienst ein, welche aber neu von KI assistiert werden (Der Standard, 2025).  

Noch mehr Leistung aus bestehenden Ressourcen herauszuquetschen, scheint also nicht der richtige Anwendungsfall für KI in der Kundenbetreuung zu sein. Vielmehr sollte man, so auch die Meinung am Roundtable, die KI nutzen, um die Kundendienstmitarbeitenden zu unterstützen, die Kundinnen und Kunden noch besser und umfassender zu betreuen. 

Start small, but start 

Ein Rollout von künstlicher Intelligenz im Kundensupport überfordert Unternehmen schnell einmal. Er braucht einen umfassenden Datensatz zum Kunden, mit dem die KI trainiert werden kann. Ebenso komplex erscheinen das Neudesign der Prozesse und die Orchestrierung der Abfragen. Das schreckt viele Unternehmen erstmal ab.  

Es geht aber auch einfacher: Die Komplexität der Umsetzung kann reduziert werden, indem man die wichtigen Anwendungsfälle identifiziert und die bestehenden Arbeitsschritte einfach mit künstlicher Intelligenz ergänzt. Schneller, echter Nutzen lässt sich schon durch folgende Beispiele erreichen: 

  1. Spracherkennungsmodelle ersetzen die mühsame Zahleneingabe bei Interactive Voice Response (IVR) Systemen. 

  2. Vorqualifizierung und Triagieren durch interaktive Konversationsmodule führen zu einem schnelleres Routing von Serviceanfragen zum richtigen Agenten. 

  3. Avatar-gestützte oder spracherkennende «Frage- und Antwort»-Bereiche ermöglichen eine schnelle und automatisierte Beantwortung häufiger Anliegen. 

  4. KI-basierte Echtzeit-Unterstützung der Agenten verkürzen deren Einarbeitungs- und Schulungszeit und stellen eine gleichbleibende Qualität des Kundendiensts sicher. 

  5. Transkription der Kundeninteraktion gepaart mit einer direkten Speicherung als Protokoll in den CRM Systemen geben dem Agent bei zukünftigen Anfragen eine umfassende Kundenhistorie. 

Diese verhältnismässig kleinen Verbesserungen in der Kundenbetreuung zeigen eine grosse Wirkung und liefern einen schnellen Return-of-Investment. Mike Odekerken zeigte den Roundtable-Teilnehmenden am konkreten Beispiel, wie eine KI-basierten Spracherkennung zu einer schnelleren Weiterleiten einer Reparaturanfrage für eine Waschmaschine zum korrekten Agenten führt und die Kundenerfahrung spürbar verbessert. Weniger Wartezeit und Wiederholungen bedeuten eine schnellere Lösung. Denn Zeit ist für Kundinnen und Kunden ebenso kostbar wie für das Service-Team. 

Besonders wirkungsvoll bei der Implementierung von KI sind Initiativen, die bottom-up – also von den Mitarbeitenden selbst – angestossen werden. Häufig basieren sie auf konkreten Herausforderungen aus dem Arbeitsalltag, die als störend oder ineffizient erlebt werden. Der persönliche Antrieb und die Begeisterung der Mitarbeitenden fördern eine schnelle, praxisnahe Umsetzung, welche oft deutlich effektiver als bei top-down gesteuerten Projekten ist.  

Vertrauen schaffen mit Künstlicher Intelligenz 

Wie schon ausgeführt geht es entgegen der Intuition beim Einsatz von KI im Kundendienst nicht nur um Automatisierung, Geschwindigkeit und Effizienz. Im Zentrum steht das Schaffen von Vertrauen und Emotionen. Kundinnen und Kunden wenden sich in Momenten der Unsicherheit an den Support. Sie haben den Wunsch, gehört zu werden und mit jemanden zu sprechen, der sich wirklich um ihr Anliegen kümmert. Diese Entwicklung zeigt sich auch in den Use Cases, welche der Harvard Business Review für das Jahr 2025 identifiziert hat. Ganz oben stehen Anwendungen, welche sich mit Kameradschaft, Lebensorganisation und Sinnsuche befassen, während funktionale Themen wie Suchfunktionen bereits aus den TOP 10 verdrängt wurden (Zao-Sanders, 2024, sowie 2025).  

Quelle: Zao-Sanders, M., Harvard Business Review, 2025 

Roger Oberholzer präsentierte hierzu das Beispiel von "Ella". Ella ist ein Chatbot für die psychische Gesundheit im Beruf und entstand in Zusammenarbeit mit dem Verband «Angestellte Schweiz». Mitarbeitende, welche sich gestresst, überfordert oder schlicht unwohl am Arbeitsplatz fühlen, können ihre Sorgen mit Ella teilen. Ella reagiert einfühlsam und bietet erste Ratschläge in einem anonymen Rahmen. Sie ersetzt dabei keine medizinischen Fachpersonen wie Ärztinnen oder Therapeuten, aber sie ist eine niederschwellige 24/7 Option, den ersten Schritt hin zu professioneller Unterstützung bei psychischen Belastungen am Arbeitsplatz zu machen (Angestellte Schweiz, o. J.).  

Ella ist ein gutes Beispiel für die zunehmende Bedeutung von Künstlicher Intelligenz als kameradschaftlicher Kompanion, und zeigt auf, wie sich die Kundenbetreuung qualitativ verändern wird. In Zukunft werden Konsumentinnen und Konsumenten nicht mehr mühsam Q&A Sektionen auf Webseiten durchstöbern oder nach versteckten Kontaktnummern suchen müssen. Die Unterstützung wird direkter, persönlicher und leichter zugänglich sein. Schon heute interagieren 72% der Schweizerinnen und Schweizer gemäss einer Studie von Comparis lieber mit einem Chatbot, anstatt auf einer Webseite die Inhalte zu suchen (Innofact, 2024). 

Der proaktiven Dialog mit KI-gestützte Bots, die nicht nur reagieren sondern aktiv Fragen stellen, nachhaken, Empfehlungen geben, die weit über simple Skripte hinausgehen, wird eine zentrale Drehscheibenfunktion im zukünftigen Customer Care übernehmen. Dieser Dialog entscheidet, zu welchem Agenten Kunden mit komplexen Anliegen, frustrierte Kunden oder verunsicherte Kunden weitergeleitet werden. 

Es gibt aber auch Risiken 

Die Teilnehmenden des Roundtables waren sich einig: Trotz aller positiven Zukunftsaussichten birgt die künstliche Intelligenz in der Kundenbetreuung auch Risiken. Missbrauch, Manipulation, Betrug, übermässiges Vertrauen und die Gefahr von Abhängigkeit gehören dazu. Die komplexen Fragen zum Einsatz von KI im Customer Care sollten nicht unterschätzt werden: 

  • Wie können wir Daten schützen und Anonymität wahren, während wir gleichzeitig Speicherung von Historien und Personalisierung von Diensten anbieten? 

  • Welche ethischen Leitplanken gelten, wenn KI die Stimmung der Kundinnen und Kunden beeinflusst oder sie sogar manipuliert? 

  • Was passiert, wenn Bots zu vertraut werden und Benutzerinnen und Benutzer anfangen, sie dem menschlichen Agenten gegenüber zu bevorzugen? 

  • Wie behalten wir die Kontrolle über den Kundenkontakt, wenn sich die Customer Journey verändert und es neue Einstiegspunkte für die Kunden entstehen? 

  • Wie können wir Missbrauch und Betrug verhindern? Wie können Firmen die Echtheit eines Bots nachweisen und Manipulation durch unautorisierte Dritte ausschliessen? 

  • Und schliesslich, wer haftet für einen Bot, der auf einem Computerprogramm basiert, von dem wir nicht ganz verstehen, wie es funktioniert? 

Die Bots "Maya" und "Miles", die ein Forschungsprojekt der Softwarefirma Sesame sind, agieren als gutes Beispiel dafür, wie intuitiv, menschenzentriert und gesprächig – fast schon kokett – Voice-Bots heute sein können (Sesame, o. J.). Sie zeigen, dass bei KI-Projekten im Customer Care zwingend angemessene Schutzmassnahmen, klare Prompting-Grenzen, zugängliche Eskalationsstufen sowie eine stringente Governance unabdingbar sind. Genau diese Kontrollfunktion ist unter anderem ein Grund, warum die KI die menschlichen Call-Center-Agenten nicht ersetzen wird. Aber die Aufgaben der Agenten werden sich verändern, wie Mike Odekerken treffend sagte.  

Zusammenfassend lassen sich die Erkenntnisse des Roundtables wie folgt beschreiben: Die künstliche Intelligence im Customer Care ist weit mehr als die Implementierung von Technologien, um Kosten zu sparen und den Personalbestand zu reduzieren. Es ist eine Transformation von Rollen, Beziehungen und Relevanz hin zu einer besseren Qualität im Customer Care. Kundinnen und Kunden wenden sich an den Kundendienst, weil sie Hilfe und Beratung suchen. Unternehmen sollten daher die künstliche Intelligenz nutzen, um ein einzigartiges, positives Markenerlebnis für ihre Kunden zu schaffen.  

 

Quellen 

Angestellte Schweiz. (o. J.). Etwas tun?! Chatbot. Abgerufen 20. Juni 2025, von https://www.etwastun.ch/chatbot 

Der Standard (2025). KI-Fail: Klarna sucht jetzt doch wieder menschliche Kundenbetreuer, publiziert 12. Mai 2025, mit Referenz auf Bloomberg Interview mit Klanra, publiziert am 8. Mai 2025. https://www.derstandard.at/story/3000000269297/ki-fail-klarna-sucht-jetzt-doch-wieder-menschliche-kundenbetreuer 

Innofact. (2024, April 16). Comparis Studie: Schweizer wollen lieber Chatbots statt Telefon-Warteschleifen. https://innofact-marktforschung.de/comparis-studie-schweizer-wollen-lieber-chatbots-statt-telefon-warteschleifen/ 

Sesame. (o. J.). Preview Conversational Voice. Abgerufen 20. Juni 2025, von https://app.sesame.com/?_gl=1*cmzlnq*_ga*NTczNjg0MjA0LjE3NDk3MTM2ODE.*_ga_ZZLPJBMBEN*czE3NTA0MDgzMTMkbzMkZzEkdDE3NTA0MDgzMjIkajUxJGwwJGgw 

Zao-Sanders, M. (2024). How People Are Really Using GenAI. Harvard Business Review (HBR). https://hbr.org/2024/03/how-people-are-really-using-genai 

Zao-Sanders, M. (2025). How People Are Really Using GenAI in 2025. Harvard Business Review (HBR). https://hbr.org/2025/04/how-people-are-really-using-gen-ai-in-2025 

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